Am 12.03. wird in Kassel das Amt des OB zur Wahl gestellt. Wir möchten dies zum Anlass für einen kurzen Kommentar nehmen. Seit 2017 bekleidet Christian Geselle (bis vor Kurzem noch SPD) dieses Amt. Geselle tritt in dieser Runde erneut an, diesmal jedoch, nach einem Zerwürfnis mit der SPD, als parteiloser Kandidat. Seine Wahlwerbung stellt die Themen Sicherheit, Miteinander und Zuversicht in den Mittelpunkt. Wie bei der meisten Wahlwerbung bleibt offen, was unter den Slogans verstanden werden kann – der Kandidat der Grünen z. B. will “gerecht” sein, aber auch ein “Macher”, der die Ärmel hochkrempelt. Was das bedeutet, ist so unklar, dass es auch nach einem möglichen Amtsantritt auf keine konkrete Politik verpflichtet. So wolkig diese Wahlwerbung auch ist: Bei Christian Geselle lässt sich anhand seines bisherigen politischen Handelns im Amt des OB durchaus darlegen, was er sich unter Sicherheit, Miteinander und Zuversicht vorstellt. 

Obwohl traditionell ein Anliegen rechtskonservativer Politik ist das Thema Sicherheit heute lagerübergreifend in aller Munde. Bundeskanzler Olaf Scholz, bis vor kurzem noch Parteigenosse Geselles, konnte mit seinem Graubrot-Image – fad aber irgendwie zuverlässig – das Sicherheitsbedürfnis der deutschen Wählerschaft ansprechen. Dass er zuvor in Hamburg die Folter von Menschen im Rahmen strafrechtlicher Verfolgung einführen ließ, ist für seine Wähler*innen offenbar nachrangig. Aus Perspektive der Hamburger Sozialdemokratie, die damals Angst haben musste, von der CDU und der Partei Rechtsstaatlicher Offensive rechts überholt zu werden, handelte es sich bei diesem Vorgehen, das auch Todesopfer forderte, vermutlich um konsequente Law-and-Order-Politik, sofern diese sich eben durch das Sicherheitsbedürfnis der Bürger*innen legitimiert glaubte.

Christian Geselle selbst hat im Geiste von ‘Recht und Ordnung’ 2020 die Stadtpolizei in Kassel eingeführt mit dem Argument, es ginge dabei um subjektive Sicherheitsgefühle – dies haben wir bereits damals kommentiert. So war die Kriminalität in Kassel zu diesem Zeitpunkt zwar rückläufig – nichtsdestoweniger sei es aber aufgrund der herbeierzählten öffentlichen Gefühlslage eben nötig gewesen, eine Abteilung des Ordnungsamtes mit Schlagstock und Pfefferspray sowie erweiterten Befugnissen wie der Ausübung unmittelbaren Zwangs auszustatten. Was diese Befugniserweiterung realiter bedeutet, haben wir ebenfalls anhand von Vorfällen im Nordstadtpark geschildert: Es kam bereits unmittelbar nach Einführung der Stadtpolizei zu willkürlicher und unverhältnismäßiger Gewaltanwendung durch die Beamt*innen gegen POC. Seitdem tritt die Stadtpolizei vor allem dadurch in Erscheinung, dass sie Menschen, die in den Augen der Mehrheitsgesellschaft nicht ins Stadtbild passen, aus der Öffentlichkeit entfernet. Definiert sind ihre Aufgaben dahingehend auch in aller Klarheit: So steht an oberster Stelle die Kontrolle „der Trinker- und Drogenszene“. Die Aufgabe, mit der Geselle die Beamt*innen also betraut hat, ist unter anderem die der gruppenbezogenen Repression im Namen öffentlicher Sicherheit und Ordnung, wie sie von rechts stets phantasiert wird.

Bereits in den 1830er Jahren gab es in Kassel eine Stadtpolizei, die bezeichnenderweise als Bürgergarde gegründet und schon damals als „biedermeierliches Paradeobjekt“ belächelt wurde. Gemeint war damit sicherlich, dass die Bürgergarde offenkundig Produkt und zugleich Ideal jenes deutschen kleinbürgerlichen Selbstbewusstseins ist, das sich mit einem Leben in relativer Armut bescheiden kann, solange Schlechtergestellte, die an die Gefahr des eigenen Absturzes in absolute Armut erinnern, ausgegrenzt, kriminalisiert und verfolgt werden. Daran hat sich bis heute, so legen Auftreten und Inszenierung der Stadtpolizei nahe, lediglich oberflächlich etwas geändert.

Für Geselle als ehemaligem Verwaltungsjuristen, also Polizisten, scheinen Politik und Polizieren schwer unterscheidbar. So knüpft er wie selbstverständlich und ohne hinreichende Begründung an die Tradition deutschen Biedermeiertums in Kassel an – Schlagstock, Pfefferspray und unmittelbarer Zwang gegen jede*n der*die nicht ins Bild passt. Die Geschichte belegt zur Genüge: Der Schritt von der Devianz zur Delinquenz, das heißt von der Ausgrenzung unliebsamer sozialer Gruppen wie etwa armer oder als migrantisch identifizierter Menschen hin zu ihrer Kriminalisierung, ist für den*die deutsche*n Kleinbürger*in zumeist bloß eine ‘Verschärfung der Sicherheitspolitik’. Ob Geselle dies im Sinn hat, weiß vielleicht nicht mal er selbst genau. Dass es seiner bisherigen Politik durchaus entspräche, darf angenommen werden.

Das Thema des Miteinanders ist damit bereits angerissen. Ein Wahlwerbespot Geselles beginnt auf der Friedrich-Ebert-Straße, Kassels Ballermann, benannt nach einer der Ikonen der Sozialdemokratie (Friedrich Ebert, der Mann der Reformen und Vaterlandsverteidigung): Der Weltgeist hat durchaus Humor. 

Auf der Friedrich-Ebert-Straße kommt es immer wieder zu Über- und Angriffen auf POC und FLINTA*. Während der Pandemie drückte Geselle hier ein Straßenfest mit tausenden Besucher*innen wider jede Vernunft um des betrunkenen und enthemmten Miteinanders willen durch. Wenn es um den Kontrollverlust in Volksfeststimmung geht, können Sicherheit und Ordnung offenbar zurückgestellt und Hygieneschutzmaßnahmen locker gehandhabt werden. Von solidarischem Umgang oder sozialem Handeln, wofür „Miteinander“ auch stehen könnte, kann hier keine Rede sein. Bezeichnenderweise erhob Geselle schließlich die christlichen Werte „Glaube, Liebe, Hoffnung“ zum Motto der documenta fifteen, über die schon vor ihrem Beginn hitzig debattiert wurde und auf der antisemitische Stereotype und Propaganda präsentiert wurden, was nicht zuletzt wiederum zu rassistischen Auslassungen über den sogenannten „globalen Süden“ in der öffentlichen Debatte führte. In dieser komplizierten Gemengelage Banalitäten wie „Glaube, Liebe, Hoffnung“ anzuführen, unter denen sich die Künstler*innen, Kurator*innen, Kasseler Bürger*innen, internationale Besucher*innen sowie Disputant*innen rund um die documenta versammeln sollten, spricht für ein absolutes Unverständnis der politischen Situation beziehungsweise ein fahrlässiges Nicht-verstehen-Wollen sowie die Aufgabe jeder differenzierten Auseinandersetzung und nötigen Kritik zu Gunsten einer inhaltsleeren Vorstellung von Gemeinschaft: Sich im Miteinander wohlfühlen entgegen jeder politischen Realität, realer Differenzen und Diskriminierungen.

Geselle bewies angesichts der documenta fifteen seine Unfähigkeit, angemessen mit eben solchen wichtigen Themen wie Rassismus und Antisemitismus umzugehen.

Diese Politik der realitätsfernen Phrasen führt uns zum letzten Wahlslogan: Der Zuversicht. Ohne den Kontext der Amtszeit von Geselle ist sie eine durchaus erstrebenswerte Haltung, wenn etwa ein gelassener Blick auf die Welt in Anerkennung ihrer Unwägbarkeiten, Gefahren und Abgründe damit gemeint ist. Wie sich bereits gezeigt hat, kann allerdings im Falle Geselles hiervon keine Rede sein. Wohl eher meint er mit Zuversicht eine Haltung, die über Zerwürfnisse und Gefahren selbstgefällig hinwegsieht. Beispielhaft kann hier nicht nur die documenta fifteen angeführt werden, sondern auch die Demonstration der Coronaleugner*innen 2021, bei der 20.000 Teilnehmer*innen enthemmt und mit zeitweise aktiver Unterstützung sowie Zuspruch der Polizei, die Gegendemonstrant*innen von der Straße prügelte und den Coronaleugner*innen Herzchen zuwarf, durch Kassel wüteten, Menschen verfolgten und angriffen und sogar versuchten, in Häuser einzudringen. Geselles Kommentar zu diesem totalen Versagen staatlicher Organe und der Häufung von Straftaten seitens der Demonstrierenden und Beamt*innen war, dass den Polizeibeamt*innen nichts vorzuwerfen sei. Das können wir uns also unter Zuversicht vorstellen: Eine Ignoranz realen Scheiterns, offensichtlicher Differenzen und schließlich auch unverhältnismäßiger polizeilicher Gewalt gegen antifaschistische Kräfte. 

In aller Klarheit: Geselle steht für eine Politik der Ausgrenzung und Ignoranz. Ob die Lage für marginalisierte Gruppen sowie der Umgang mit gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in der Kasseler Stadtpolitik besser wird durch eine*n der anderen Kandidat*innen, soll hier nicht prognostiziert werden. Zumindest die Chance auf dringend nötige Besserung gibt es aber nur ohne Geselle! 

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